„Die Digitale Allianz ist der richtige Weg“ – Interview mit Marco Llinás
Ein historisches Abkommen unterzeichneten im März 2023 alle 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und 20 Länder Lateinamerikas und der Karibik (LAC): Die Digitale Allianz zwischen der EU und Lateinamerika und der Karibik stärkt die Zusammenarbeit beider Regionen in wichtigen digitalen Fragen, um dort eine inklusive digitale Transformation zu erreichen. Wie sieht ihr Rahmen aus? Ein Gespräch mit Marco Llinás, Direktor der Abteilung Produktion, Produktivität und Management der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC).
Warum brauchen wir eine Digitale Allianz zwischen Lateinamerika sowie der Karibik und der EU?
Die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit in digitalen Fragen kann in der heutigen digitalisierten Wirtschaft gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eine digitale Allianz zwischen Lateinamerika sowie der Karibik und der Europäischen Union ist aus wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gründen von grundlegender Bedeutung. Der derzeitige wirtschaftliche Kontext in Lateinamerika und der Karibik ist mit Blick auf das Wachstum komplex. Die Region steht vor einem neuen verlorenen Jahrzehnt, noch schlimmer als das berüchtigte verlorene Jahrzehnt der 1980er Jahre. Zwischen 2014 und 2023 verzeichnete die Region eine Wachstumsrate von nur 0,8 %.
Was waren die Gründe dafür?
Grundsätzlich lässt sich das geringe Wachstum in dieser Region vor allem durch das geringe Produktivitätswachstum erklären, das in den letzten Jahrzehnten praktisch stagnierte. Wenn die Region dieses Produktivitätsproblem nicht in den Griff bekommt, wird sie Schwierigkeiten haben, andere dringende Entwicklungsaufgaben zu bewältigen – wie die Verringerung der Armut, die Verringerung der Ungleichheit und sogar die Bewältigung von Umweltproblemen. Der berühmte Satz von Paul Krugman erinnert uns daran: „Produktivität ist nicht alles, aber auf lange Sicht fast alles“.
Welche Rolle kann die Digitale Allianz dann spielen?
Sie kann neue Möglichkeiten für Wirtschaftswachstum und Innovation in unseren Ländern und ihren Gebieten schaffen. Eine digitale Agenda, wie sie die Digitale Allianz darstellt, kann ein Katalysator für die produktive Entwicklungspolitik unserer Länder sein, indem sie eine zentrale Rolle bei der Förderung von Innovationen in Unternehmen und Organisationen spielt und die Art und Weise revolutioniert, wie diese in der heutigen dynamischen Landschaft arbeiten und konkurrieren. Die Bedeutung digitaler Technologien liegt in ihrer Fähigkeit, die Effizienz zu steigern, Prozesse zu rationalisieren und neue Entwicklungsmöglichkeiten zu erschließen. Von Cloud Computing und künstlicher Intelligenz bis hin zu Datenanalyse und Automatisierung – diese Technologien ermöglichen es Unternehmen, große Mengen an Informationen in Echtzeit zu sammeln, zu analysieren und zu nutzen.
Die fortschrittliche digitale Wirtschaft der EU und ihre Erfahrung mit digitaler Transformation können beim Aufbau von Kapazitäten in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik hilfreich sein. Der Austausch von Wissen und Know-how wird ein dynamisches Umfeld fördern, in dem beide Regionen zur digitalen Transformation beitragen und davon profitieren können. Durch ihre Zusammenarbeit können LAC und die EU auch eine integrative digitale Politik entwerfen, die sicherstellt, dass die Vorteile der Technologie alle Teile der Gesellschaft erreichen, die neue Wege zur Förderung des Unternehmertums findet und den Unternehmen Möglichkeiten zur Erweiterung ihrer Märkte bietet.
Und was sind die gemeinsamen zentralen Herausforderungen der digitalen Transformation in LAC und in der EU?
Trotz ihrer offensichtlichen unterschiedlichen Merkmale haben sie gemeinsame Herausforderungen. Ein Haupthindernis ist die ungleiche digitale Konnektivität, insbesondere in ländlichen und wirtschaftlich weniger entwickelten Gebieten, wo der Zugang zu zuverlässigen Internetverbindungen und fortgeschrittenen technologischen Ressourcen begrenzt ist.
Eine weitere gemeinsame Herausforderung ist die Notwendigkeit, die digitale Qualifikationslücke zu schließen, was erhebliche Investitionen in Bildungs- und Ausbildungsprogramme erfordert, um die Menschen mit den nötigen Fähigkeiten auszustatten, damit sie aus der digitalen Wirtschaft Nutzen ziehen.
Darüber hinaus stehen die Mitgliedsstaaten von LAC und EU vor der Herausforderung, rechtliche Rahmenbedingungen zu entwickeln und anzupassen, die Innovationen fördern und gleichzeitig Sicherheits-, Datenschutz- und ethische Bedenken berücksichtigen. Ein Gleichgewicht zu finden, das den technologischen Fortschritt fördert, ohne die Rechte der Verbraucher zu gefährden, ist daher von entscheidender Bedeutung, um Vertrauen in die digitale Transformation zu schaffen – sowohl für Unternehmen als auch für Einzelpersonen. Durch die Förderung der Zusammenarbeit können beide Regionen von verschiedenen technologischen Fachkenntnissen und Markteinblicken profitieren und das schaffen, was wir ein synergetisches Umfeld nennen; welches Innovation und Wettbewerbsfähigkeit fördert.
Besteht in all diesen Punkten Einigkeit?
Es gibt ein gemeinsames Verständnis für diese Herausforderungen. Außerdem sind Europa und Lateinamerika sowie die Karibik durch ihr Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und Grundsätzen tief miteinander verwurzelt. Beide Regionen erkennen die Wichtigkeit an, eine digitale Landschaft zu fördern, welche die Privatsphäre respektiert, die Inklusion fördert und die Menschenrechte wahrt.
Es gibt auch eine gemeinsame Vision in Bezug auf die Möglichkeit, dass beide Regionen voneinander lernen können und nicht nur unsere Region von der EU lernt. Die EU und ihre Mitgliedstaaten können bei der digitalen Transformation von den lateinamerikanischen Ländern lernen. Erstens, die Bedeutung von Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit angesichts verschiedener Herausforderungen, wie etwa unterschiedliche Niveaus der wirtschaftlichen Entwicklung und Ungleichheiten in der Infrastruktur, und das Verständnis dafür, wie die Länder Lateinamerikas und der Karibik diese Herausforderungen gemeistert haben, kann der EU bei der Bewältigung ähnlicher Probleme in ihren verschiedenen Mitgliedstaaten helfen.
Wir sagen, dass Lateinamerika und die Karibik oft innovative Lösungen entwickelt haben, die auf ihren einzigartigen sozioökonomischen Kontext zugeschnitten sind, und die EU kann von diesen lokalisierten Ansätzen und Initiativen lernen. Dazu gehören technologische Unternehmungen aller Art. In den Ländern Lateinamerikas und der Karibik gibt es beispielsweise ein lebendiges Innovationsökosystem in Bereichen wie FinTech, Agrartechnologie und E-Health. Daher könnte es von großem Wert sein, die Innovations- und Unternehmerkapazitäten Lateinamerikas und der Karibik mit dem möglichen Bedarf europäischer Unternehmen zu verknüpfen. Und das ist etwas, was wir im Rahmen der Digitalen Allianz zwischen der EU und Lateinamerika sowie der Karibik tun.
”Wir sagen, dass Lateinamerika und die Karibik oft innovative Lösungen entwickelt haben, die auf ihren einzigartigen sozioökonomischen Kontext zugeschnitten sind, und die EU kann von diesen lokalisierten Ansätzen und Initiativen lernen. Dazu gehören technologische Unternehmungen aller Art. […] Daher könnte es von großem Wert sein, die Innovations- und Unternehmerkapazitäten Lateinamerikas und der Karibik mit dem möglichen Bedarf europäischer Unternehmen zu verknüpfen. Und das ist etwas, was wir im Rahmen der Digitalen Allianz zwischen der EU und Lateinamerika sowie der Karibik tun.”
Marco Llinás
Hätten Sie ein Beispiel dafür, wie die Länder Lateinamerikas und der Karibik Lösungen gefunden haben, von denen EU-Länder lernen können?
Lassen Sie mich ein Beispiel aus dem Bereich der nachhaltigen Entwicklung nennen. LAC-Länder setzen aktiv digitale Werkzeuge für die Umweltüberwachung und den Umweltschutz ein. Eines der Beispiele ist Aqua Crop, ein digitales Tool, das Landwirten hilft, den Wasserverbrauch zu optimieren und die Bewässerungseffizienz in der Landwirtschaft zu verbessern. Dieses Tool ist besonders wertvoll in Chile, wo Wasserknappheit ein großes Problem darstellt. Aber es gibt auch viele Beispiele in anderen Bereichen. Die Region hat verschiedene institutionelle Vereinbarungen getroffen, um Konnektivitätsprobleme zu lösen.
Ein Beispiel dafür ist die Initiative „Internet für alle“ in Peru, bei der sich internationale Organisationen, der Privatsektor und Entwicklungsbanken zusammengeschlossen haben, um ein Telekommunikationsunternehmen zu gründen, das 3 Millionen Menschen in Peru Zugang zum Internet verschafft.
An der Umsetzung von Initiativen der Digitalen Allianz sind viele verschiedene Akteur*innen beteiligt, darunter Regierungen, der Privatsektor, die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft und andere. Was sind Ihrer Erfahrung nach die wichtigsten Aspekte, um eine gemeinsame Basis zu finden, insbesondere im Hinblick auf die digitale Transformation?
Bei ECLAC haben wir umfangreiche Erfahrungen damit, verschiedene Visionen auf gemeinsame Ziele hin zusammenfließen zu lassen. Besonders erwähnenswert ist die Digitale Agenda für Lateinamerika und die Karibik, auch bekannt als eLAC, eine Vereinbarung, die im Rahmen der Ministerkonferenz zur Informationsgesellschaft entwickelt wurde. Sie ist das Ergebnis eines Konsenses zwischen staatlichen Akteur*innen, dem Privatsektor, der Zivilgesellschaft und der Tech-Community. Diese Agenda setzt sich aus einer Reihe strategischer politischer Ziele zusammen, die von den Regierungen angenommen und alle zwei Jahre überarbeitet werden.
Wir glauben, dass die Einrichtung klarer Beteiligungsmechanismen von grundlegender Bedeutung ist. Dies ist uns bei eLAC gelungen, weil wir über ein Governance-Modell mit klaren Rollen und Arbeitsbereichen für die Beteiligung von Regierungen und nichtstaatlichen Akteur*innen verfügen, die genau definiert sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt in dieser Hinsicht ist die Förderung von Vertrauen, was wir durch einen mehrjährigen Arbeitsprozess erreicht haben.
Wie fühlt es sich an, für eLAC verantwortlich zu sein? Eher wie ein Ritt auf einer Welle oder eher wie Sisyphus, der all diese Akteur*innen zusammenbringt?
Glücklicherweise gibt es bereits eine lange Erfahrung darin, all diese Akteur*innen auf den richtigen Weg zu bringen. Als Teil des UN-Systems verfügen wir bei ECLAC über die institutionelle Stärke und die Fähigkeit zum Zusammenruf. Ich glaube fest an das Potenzial dieser Agenda und dieses institutionellen Arrangements für den Dialog, das eLAC darstellt. Aber Ihre Frage gefällt mir, denn sie erlaubt mir zu sagen: Ich denke, dass wir mehr profitieren und das Potenzial für Dialog und Konvergenz besser nutzen könnten; als einen Raum, in dem wir uns auf tiefgreifendere digitale Agenden für die Region einigen können, aber auch um Gespräche mit anderen Regionen wie der EU zu fördern.
Woran mangelt es?
Wir müssen einige Akteur*innen in das Gespräch einbeziehen, die wahrscheinlich besonders zu kurz gekommen sind. Wir müssen die Bemühungen um die digitale Transformation mit den Bemühungen um eine produktive Entwicklung verknüpfen, wie ich eingangs sagte. Deshalb müssen wir nicht nur die IKT-Ministerien und andere Agenturen, die mit dem Informations- und Kommunikationstechnologiesektor zu tun haben, an einen Tisch bringen, sondern auch die Ministerien und Agenturen sowie die Personen, die für produktive Entwicklungspolitik zuständig sind – zum Beispiel die Wirtschaftsminister, die Minister für Handel und Industrie.
Das bedeutet, dass die Zusammenarbeit inklusiver werden sollte. Müssen noch andere Partner*innen einbezogen werden, um eine vollständige Inklusion zu erreichen?
Der Begriff „inklusiv“ hat im digitalen Bereich eine zentrale Bedeutung gewonnen. So müssen beispielsweise Initiativen zur sozioökonomischen Eingliederung die Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit berücksichtigen, insbesondere für Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund. Das bedeutet: Bei der Entwicklung von Konnektivitätsstrategien müssen sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite berücksichtigt werden. In diesem Fall kann die Schließung der Nachfragelücke in einigen Fällen die Gewährung von Subventionen für bestimmte Gruppen beinhalten, um den Zugang zu erleichtern. Und dies kann auch die Umsetzung von Programmen zur digitalen Kompetenz beinhalten, die Schulungen und Unterstützung für diejenigen anbieten, die besonders verletzbar sind.
Wir gehen die Herausforderung der Inklusion auch in Bezug auf die Zugänglichkeit an, zum Beispiel durch die Anwendung von universellen Designprinzipien, welche die Entwicklung von digitalen Lösungen leiten und sie für Menschen mit Behinderungen zugänglich machen. Wir stellen uns der Herausforderung der Inklusion auch durch sprachliche und kulturelle Inklusion, die durch mehrsprachige Unterstützung und die Berücksichtigung kultureller Nuancen bei der Gestaltung digitaler Schnittstellen und Inhalte angegangen werden kann.
Kontinuierliche Evaluierung und Iteration vervollständigen den Prozess der inklusiven Gestaltung durch die Einrichtung von Feedback-Mechanismen und die Überwachung demografischer Daten, die Verbesserungen und die Berücksichtigung der neuen Bedürfnisse der verschiedenen Akteur*innen ermöglichen. Daher geht das Gespräch über Inklusion über die bloße Einbeziehung der Akteur*innen im Bereich der produktiven Entwicklungspolitik hinaus. Sie hat offensichtlich einen größeren Umfang.
Wenn wir über digitale Transformation reden, müssen wir auch auf Disruptionen und sich anbahnende Trends zu sprechen kommen, die das Wesen dieser Transformation maßgeblich prägen. Welche konkreten Beiträge kann die Digitale Allianz Ihrer Meinung nach zu einer nachhaltigen digitalen Transformation in beiden Regionen leisten?
Die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit, insbesondere zwischen Lateinamerika sowie der Karibik und Europa, wird gerade durch die erheblichen Risiken im Zusammenhang mit digitalen Technologien unterstrichen. Da sich die digitale Landschaft rasch weiterentwickelt, wird die Zusammenarbeit zur Bewältigung und Abschwächung dieser verschiedenen Herausforderungen unerlässlich.
An erster Stelle dieser Herausforderungen steht die komplexe und sich ständig weiterentwickelnde Cybersicherheitslandschaft. Wir sind der Meinung, dass die Länder durch Zusammenarbeit ihre kollektiven Fähigkeiten im Bereich der Cybersicherheit verbessern können. Dazu gehört der Austausch wichtiger Informationen und bewährter Praktiken sowie die Koordinierung von Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung von Cyberangriffen, Datenschutzverletzungen und der Verbreitung von Schadsoftware.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Festlegung gemeinsamer Standards und rechtlicher Rahmenbedingungen für die verantwortungsvolle Nutzung von Daten. In diesem Sinne kann die internationale Zusammenarbeit zwischen diesen Regionen zur Entwicklung von ethischen Richtlinien beitragen, die den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen gewährleisten und einen Konsens über einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten fördern. Durch die Förderung der Zusammenarbeit bei all diesen Themen, über die wir gesprochen haben – Cybersicherheit, Data Governance, Standardisierung, Kapazitätsaufbau – sind wir fest davon überzeugt, dass unsere Regionen gemeinsam eine sichere, ethische und integrative digitale Landschaft aufbauen können.
Glauben Sie, dass die Staaten stark genug sind, um all diese von Ihnen genannten Herausforderungen zu bewältigen?
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Herausforderungen, mit denen wir derzeit konfrontiert sind, nicht auf individueller Ebene bewältigt werden können. Sie müssen kollektiv angegangen werden. Und deshalb sind Initiativen wie unsere Digitale Allianz der richtige Weg.
Marco A. Llinás Vargas ist ein Experte für Wettbewerbsfähigkeit, Industriepolitik und Internationalisierung. Derzeit ist er Leiter der Abteilung für Produktion, Produktivität und Management bei ECLAC. Er war u.a. Berater des Hohen Rates für Außenhandel Kolumbiens, Vizepräsident der Handelskammer von Bogotá, Vizepräsident des Privaten Rates für Wettbewerbsfähigkeit Kolumbiens und Verhandlungsführer für das Freihandelsabkommen mit den USA.
Er ist Autor des Buches „Cluster Initiatives: a concrete and effective way to ‚move the needle‘ of productivity“. Er hat einen Abschluss in Wirtschaftsingenieurwesen und einen Master in Wirtschaftswissenschaften von der Universität Los Andes und einen Master in öffentlicher Verwaltung in internationaler Entwicklung von der Harvard-Universität.