Was wäre, wenn menschenwürdige Arbeit universell wäre?

  • Autorin

    Uma Rani

    Senior Economist, Forschungsabteilung, ILO Genf

  • Autor

    Abas Muhindi

    Research Associate, Thunderbird School of Global Management

  • Autorin

    Grace Muray

    Consultant Development Researcher am Institute for Development Studies (IDS), University of Nairobi (UoN)

  • Autorin

    Nora Gobel

    Junior Research Officer, Forschungsabteilung, ILO Genf

© freestocks / unsplash

Das Konzept der „menschenwürdigen Arbeit“ unterstreicht die Bedeutung von Arbeit, um die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) zu erreichen und die Lebensqualität von Einzelpersonen und Gesellschaften zu verbessern. Menschenwürdige Arbeit bezieht sich nicht nur auf die tatsächlichen Arbeitsbedingungen, sondern auch auf die langfristige Bedeutung, die Arbeit für die individuelle Entwicklung hat. Das Konzept ist ein zentraler Leitgedanke, der von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer spezialisierten Agentur der Vereinten Nationen, gefördert wird. Das Wachstum von plattformbasierter Arbeit zwingt uns dazu, darüber nachzudenken, wie diese Prinzipien auch auf die neuen Arbeitsplätze angewendet werden können, die aus der globalen digitalen Transformation resultieren. Insbesondere geht es darum, wie die digitale Transformation die anhaltende Kluft zwischen Ländern des Globalen Südens und Nordens verringern kann. Diesen und weiteren Fragen widmen sich Uma Rani (ILO), Abas Muhindi (Thunderbird School of Global Management), Grace Muraya (University of Nairobi) und Nora Gobel (ILO) von der Internationalen Arbeitsorganisation in diesem Artikel. Gemeinsam beleuchten sie, wie universell die Idee der menschenwürdigen Arbeit ist und was wir bei der Bewertung der Nachhaltigkeit von Microtasks im Globalen Süden berücksichtigen sollten. 

Microtaskers sind Personen, die vereinzelte, kleine Aufgaben übernehmen, deren Ausführung in der Regel nur wenige Sekunden oder Minuten dauert. Diese einfachen und sich wiederholenden Aufgaben sind oft routinemäßig und verlangen alleinig die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit, ohne dass spezialisierte Fähigkeiten erforderlich sind. In der Regel sind die Aufgaben Teil größerer Projekte oder Arbeitsabläufe, die fragmentiert über Online-Microtasking-Plattformen oder Impact-Sourcing-Unternehmen, oft als Business Process Outsourcing (BPO)-Unternehmen bezeichnet, in Länder des niedrigen bis mittleren Einkommens ausgelagert werden.

Die von Microtaskers ausgeführten Aufgaben können insgesamt in zwei Kategorien eingeteilt werden:

  • Die erste Kategorie bezieht sich auf Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen, einschließlich Aufgaben wie Inhaltsmoderation, Datensammlung, Kategorisierung, Bildannotation, Übersetzung, Transkription, Audio- und Bildaufzeichnung.
  • Die zweite Kategorie bezieht sich auf Aufgaben, die mit der Bewerbung von Produkten verbunden sind, wie Suchmaschinenoptimierung, Zugang zu Inhalten, Marktforschung und Bewertungen.

Einige dieser Tätigkeiten könnten in Zukunft automatisiert werden, während andere wahrscheinlich weiterhin von menschlichem Urteilsvermögen oder Beitrag abhängig sein werden. Trotz der anhaltenden Diskussion über die Automatisierung in der KI-Branche ist man bei der Entwicklung von KI zunehmend auf „unsichtbare” Arbeitskräfte von Microtasking-Plattformen und BPO-Unternehmen angewiesen. Diesen Arbeitskräften kommt eine Schlüsselrolle bei der Vorbereitung, Überprüfung und Entwicklung von KI-Algorithmen zu, wie sich zuletzt bei ChatGPT von OpenAI zeigte. Hierbei wurden kenianische Arbeiter*innen des BPO-Unternehmens Sama eingesetzt, um die KI darauf zu trainieren toxische, gewalttätige, sexistische oder rassistische Inhalte zu erkennen und zu vermeiden. In ähnlicher Weise verlässt sich die Automobilindustrie auf Microtaskers, um riesige Datenmengen für selbstfahrende Autos zu annotieren, was bei interner Durchführung weitaus kostspieliger wäre.

Microtaskers bleiben nicht nur weitgehend unsichtbar, sondern arbeiten auch unter prekären Arbeitsbedingungen. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, auf dem lokalen Arbeitsmarkt adäquate Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden. Daher sind die in der Regel jungen und gut ausgebildeten Arbeiter*innen auf diese Art von Arbeit angewiesen, haben jedoch häufig Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt damit zu sichern.

Obwohl diese Aufgaben in der Regel sowohl von Männern als auch von Frauen ausgeführt werden, ist das Genderverhältnis laut einer weltweiten Erhebung über Microtaskers unausgewogen. In Ländern des niedrigen und mittleren Einkommens ist eine von vier Arbeiter*innen eine Frau. In einer globalen Umfrage unter 260 Arbeitenden in Kenia waren jedoch mehr als die Hälfte der Befragten Frauen. Die Ergebnisse beider Erhebungen zeigen ein bemerkenswertes Bildungsprofil der Microtaskers. Etwa 70 Prozent der Arbeiter*innen in Entwicklungsländern haben mindestens einen Bachelor- oder Master-Abschluss, 57 Prozent von ihnen mit einer Spezialisierung in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik (MINT). In Kenia hatte etwa die Hälfte der befragten Arbeitenden einen Hochschulabschluss, wobei fast 40 Prozent auf MINT spezialisiert waren. Die Beschäftigung von so gut ausgebildeten Arbeitskräften mit einfachen, sich wiederholenden Aufgaben zeigt, dass ihre Kompetenzen nicht optimal ausgeschöpft werden. Während Aufgaben im Zusammenhang mit KI und maschinellem Lernen unter den Befragten in der globalen Umfrage bereits weit verbreitet waren, war dies in Kenia noch häufiger der Fall. Fast alle Befragten gaben an, mit solchen Aufgaben beschäftigt zu sein.

In Kenia stellt Microtasking zwar oft die Haupteinkommensquelle für die Mehrheit der Arbeiter*innen auf Plattformen (67 Prozent) und bei BPO-Unternehmen (93 Prozent) dar, jedoch ist der Verdienst ist oftmals sehr gering. In Entwicklungsländern lag der durchschnittliche Stundenlohn auf Plattformen im Jahr 2017 bei nur 2,8 US-Dollar, wobei kenianische Arbeiter*innen im Jahr 2022 etwa einen Dollar (1,3 US-Dollar) verdienten. Dabei ist zu beachten, dass die Stundenlöhne auf 2,1 Dollar in Entwicklungsländern und 1,1 Dollar in Kenia weiter sinken, wenn unbezahlte Arbeitsstunden (wie die Suche nach Aufträgen, die Absage von Arbeit usw.) berücksichtigt wird. BPO-Arbeiter*innen meldeten mit 1,1 Dollar pro Stunde (siehe Abbildung 1) vergleichbare Löhne in Kenia. Bemerkenswert ist, dass der Medianlohn für BPO-Beschäftigte dem Durchschnittslohn entspricht, während der Medianlohn für Plattformbeschäftigte in Kenia mit 0,8 Dollar etwas niedriger ist, was darauf hindeutet, dass eine beträchtliche Zahl der Beschäftigen unter dem Durchschnitt verdient.

Betrachtet man den Gesamtstundenverdienst auf Microtasking-Plattformen (einschließlich bezahlter und unbezahlter Zeit), meldeten Arbeitende aus Kenia, die Transkriptionsaufgaben erledigten, die höchsten Stundenlöhne (1,1 US-Dollar), während Content-Moderator*innen die geringste Bezahlung (0,7 US-Dollar) pro Stunde meldeten. Während es bei verschiedenen Aufgaben auf Plattformen deutliche Unterschiede beim Verdienst gibt, sind diese bei BPO-Unternehmen weniger ausgeprägt. Unabhängig von der ausgeführten Aufgabe, variiert der Verdienst in der Regel kaum. Jedoch existieren in Kenia geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Bezahlung. Auf Microtasking-Plattformen verdienen Frauen mehr (1,2 US-Dollar) als Männer (0,95 US-Dollar), während sich die Einkünfte für Männer (1,2 US-Dollar) und Frauen (1,1 US-Dollar) in BPO-Unternehmen fast angleichen. Trotz der geringen Bezahlung wollten fast alle Microtasking-Beschäftigten mehr Arbeit auf Plattformen verrichten. Etwa 80 Prozent der Befragten gaben jedoch an, dass das geringe Angebot an Arbeitsmöglichkeiten ein Hindernis darstelle, was auf den intensiven Wettbewerb sowie ein Überangebot an Arbeitskräften auf den Plattformen zurückzuführen sein könnte.

Aufgrund des Drucks, mit derart niedrigen Löhnen ein angemessenes Einkommen zu erreichen, können Pattformarbeiter*innen ihre Arbeitszeiten oftmals nicht flexibel wählen. Darüber hinaus werden sie häufig mit einer ungerechtfertigten Ablehnung der erbrachten Arbeit konfrontiert, was zu unbezahlten Überstunden und Wochenendarbeit führt. Darüber hinaus haben Plattformarbeitende meistens keinen Anspruch auf arbeits- und sozialrechtliche Leistungen, während BPO-Arbeiter*innen solche Leistungen aufgrund ihres Arbeitsvertrags in Anspruch nehmen können.

Studien zeigen zudem, dass geringe Entlohnung und psychosoziale Belastungen bei Contentmoderator*innen zur Regel gehören. Das Beispiel von ChatGPT unterstreicht einen zunehmenden Trend, bei dem Arbeitskräfte aus Ländern des Globalen Südens eingesetzt werden, um Probleme im Zusammenhang mit kommunikativer und verbaler Gewalt zu lösen. Beispielsweise berichtete das Times-Magazin vor kurzem von schlechten Löhnen und traumatischen Erfahrungen vieler Content-Moderator*innen. In Reaktion auf die ausbeuterischen Verhältnisse organisierten sich Arbeiter*innen und ergriffen kollektive Maßnahmen. Daraufhin drohte zentralen Organisator*innen der Bewegung die Kündigung. Momentan werden die Geschehnisse in einem Gerichtsverfahren (Daniel Motaung gegen Samasource Kenya EPZ Limited, Meta Platforms INC, Meta Platforms Ireland Ltd) aufgerollt.

Die Zunahme von Microtasking in Entwicklungsländern, insbesondere im Zusammenhang mit niedrigschwelliger KI und maschinellem Lernen, wirft erhebliche soziale und entwicklungsbezogene Fragen auf. Wie die erwähnten Umfrageergebnisse zeigen, haben Plattform- und BPO-Arbeiter*innen oft Schwierigkeiten, ihr Einkommen zu sichern oder wesentliche Leistungen und Schutzmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Viele haben erhebliche finanzielle Ressourcen in ihre Ausbildung investiert, in der Hoffnung, eine formelle Anstellung zu finden. Der anhaltende Mangel an Arbeitsmöglichkeiten führt jedoch oft dazu, dass sie gezwungen sind, im Microtask-Sektor tätig zu werden. Das Auslagern solcher Aufgaben ist besorgniserregend, da es die Gefahr birgt, dass hochqualifizierte und professionell zertifizierte Arbeitskräfte keine adäquate Beschäftigung in ihren Bereichen finden und somit neue „Ausbeuterbetriebe“ für digitale Arbeit in Entwicklungsländern entstehen könnten. Zudem könnte diese Entwicklung die Einkommensungleichheit stärken und den Arbeitsmarkt weiter polarisieren.

Diese Situation macht eine grundlegende Debatte über die Art der Beschäftigungsmöglichkeiten notwendig, die in Volkswirtschaften mit einem wachsenden Anteil an ausgebildeten und qualifizierten Arbeitskräften geschaffen werden sollten. Wie trägt diese Arbeit dazu bei, die Karrieren hochqualifizierter Fachkräfte im Globalen Süden auf individueller Ebene voranzubringen? Wie fördern diese Aufgaben die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung? Die Situation wirft die Frage auf, ob dieser Wandel gefördert werden sollte oder ob das Wissen und die Fähigkeiten dieser Arbeitskräfte genutzt werden könnten, um Werkzeuge oder Technologien zu entwickeln, die ihren Gesellschaften und Wirtschaften zugutekommen. Solche Erwägungen erfordern weitere Überlegungen zu politischen Maßnahmen und Regelungen, die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Gewährleistung von Arbeits- und Sozialschutz und der Schaffung von hochwertigen Arbeitsplätzen für alle ermöglichen.