Karya ist die weltweit erste Datenkooperative, die wirtschaftlich benachteiligten Inder*innen eine menschenwürdige digitale Arbeit ermöglicht und ihnen einen Weg aus der Armut weist. Das Startup hält für sie faire wirtschaftliche Chancen bereit, indem es Datenannotationen für KI-Kunden anbietet. Dabei arbeitet Karya auch mit der BMZ-Initiative FAIR Forward – Artificial Intelligence for all zusammen, die lokale und verantwortungsvolle KI-Innovationen in Indien und weltweit unterstützt. Können die Prinzipien der fairen KI auf Datenarbeiter*innen übertragen werden? Fragen an Vivek Seshadri, Mitbegründer und CTO von Karya.
Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie auf die Idee zu Karya kamen?
Ja, das ist eine lange Geschichte. In Indien gibt es den National Rural Employment Guarantee Act. Im Rahmen dieses Programms stellt die Regierung jedem ländlichen Haushalt auf Antrag einen Mindestlohn zur Verfügung – meist in Form von körperlicher Arbeit, bei der die Leute beim Ausbau des Straßennetzwerkes oder anderer öffentlicher Infrastruktur mithelfen. Wir waren der Meinung, dass wir den Menschen neben der körperlichen Arbeit auch digitale Arbeit anbieten sollten. Die Verbreitung von Smartphones hat zugenommen, und auch die Datenverbindungen sind immer besser geworden. Wenn also selbst Menschen in einkommensschwachen Gemeinden ein Smartphone in der Hand haben, können wir ihnen dann digitale Arbeit anbieten, mit der sie ein Einkommen erzielen können? So fing es an.
Das war die Idee. Ich kann mir vorstellen, dass danach viele Fragen kamen.
Sicher. Zum Beispiel, welche Art von Arbeit können Menschen in ländlichen Gegenden mit einem Smartphone erledigen, und wie wird die Qualität der Arbeit sein? Wie viel würde das kosten? Ist die Idee überhaupt realisierbar? Da wir ein Forschungslabor sind, haben wir eine Reihe von Nutzerstudien realisiert, um diese Fragen zu beantworten: Können Menschen in ländlichen Regionen digitale Aufgaben effizient erledigen und mit dem Markt konkurrieren, um einen Mehrwert zu schaffen? Und vor etwa zwei Jahren haben wir uns entschieden: Die Idee hat weitgehend positive Auswirkungen und ist sehr gut umsetzbar. Können wir sie also skalieren? An diesem Punkt haben wir das Startup ausgegliedert.
Und können Sie uns als Startup sagen, wie viele Menschen Sie als Auftragnehmer mit Ihrer App erreicht haben?
Die App wurde von vielen Partner*innen unseres Ökosystems für ihre eigenen Einsätze genutzt. Insgesamt haben wir derzeit rund 35.000 Menschen erreicht.
Und wie groß ist das Wachstumspotenzial? Wo sehen Sie Karya in zehn Jahren?
Wir wollen 100 Millionen Menschen über unsere Plattform erreichen. Was wir heute in der Welt sehen, wird viel schneller durchgeschüttelt als noch vor ein paar Jahren. Es ist klar, dass wir uns an das sich verändernde Ökosystem anpassen müssen. Unser Ziel ist es, den Menschen eine Arbeit zu geben, die ihnen ein zusätzliches Einkommen verschafft – welches ihnen hilft, einen maßgeblichen Betrag an Ersparnissen aufzubauen. Gleichzeitig suchen wir nach Wegen, wie wir den Menschen die nötigen Fähigkeiten vermitteln können, um in dieser digitalen Welt zu überleben; wie wir sie mit Möglichkeiten einer langfristigen Beschäftigung vernetzen können.
Würden diese fairen Löhne auch in einem reinen Geschäftsmodell funktionieren?
Es klafft eine große Lücke zwischen dem Wert, den ein Datensatz schafft, und den Löhnen, die die Menschen vor Ort für die Erstellung und Aufbereitung dieser Daten erhalten. Der beste Weg, diese Kluft zu überbrücken, ist Lohnerhöhung. Wir könnten unser Team sehr leicht durch die Einnahmen, die wir erzielen, unterstützen. Wir sind also der festen Überzeugung, dass dies nicht nur ein praktikables Modell ist, sondern dass eine ethische Welt danach streben sollte, dieses Modell umzusetzen, weil der Wert einfach enorm ist.
Ist es nicht frustrierend, dass die großen Gewinne immer woanders bleiben?
Das ist die Welt, die wir heute bekämpfen. Es gibt mehr Reichtum in der Welt als je zuvor. Und ein Großteil der jungen Bevölkerung erkennt die Notwendigkeit, diesen Reichtum gerechter zu verteilen. Selbst Menschen, die einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten, geht es nicht immer gut. Wie kommen wir zu einer Gesellschaft, in der alle Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, so dass sie sich keine Sorgen machen müssen, ob sie genug zu essen haben? Das ist die Herausforderung. Wenn die Menschen sich Sorgen um ihren nächsten Tag machen, führt das zu einem wirtschaftlichen Wettlauf nach unten, bei dem sie alles tun, um Geld zu verdienen.
Wie kann sich der Markt verändern?
Wir betrachten Daten nicht mehr als Arbeit, sondern eher als eine Investition, bei der die Menschen einen kontinuierlichen Nutzen aus den von ihnen erzeugten Daten ziehen, ähnlich wie bei Software-Abonnements. Was bedeutet es, eine Software zu abonnieren? Es bedeutet, dass ich so lange für diese Software bezahle, wie sie mir einen Nutzen bringt. Können wir eine ähnliche Welt für Daten schaffen?
Wie könnte die Weltwirtschaft davon profitieren, wenn die Datenarbeiter*innen besser informiert und bezahlt würden? Ich meine, das würde erstmal mehr kosten.
Das hat einen ethischen und einen Qualitätsaspekt. Wenn Sie Ihre Datenarbeiter*innen gut bezahlen, erhalten Sie bessere Qualität. Um nun zum ethischen Aspekt zu kommen, wie wäre es mit einer Analogie: Unternehmen profitieren von den privaten Daten von Einzelpersonen, und das schon seit langem. Neue Gesetze wie die DSGVO besagen, dass private Daten Eigentum der Personen sind, denen sie gehören, und dass diese daher das Recht haben sollten, zu kontrollieren, wie die Daten verwendet werden und wer die Daten verwendet, und dass sie Genehmigungen widerrufen können. Dies ist ein rechtlicher Rahmen, in dem beschlossen wurde, dass es für Unternehmen schlecht ist, aus welchen Gründen auch immer von privaten Daten einzelner Personen zu profitieren. Ich denke, dass es hier um die gleiche Frage geht.
Wie können Datenarbeiter*innen von neuen Technologien wie KI profitieren?
Schauen wir uns mal die jüngste Erschütterung an. Die Menschen haben ChatGPT genutzt, um ihr Leben zu verbessern, um ihre Effizienz bei dem zu steigern, was es tun. Wenn ich meine Arbeit, für die ich bisher eine Stunde brauchte, mit Hilfe von ChatGPT in fünf Minuten erledigen kann, habe ich mehr Zeit für die gleiche Arbeit, bei gleichem Gehalt. Die Effizienz wiederum ermöglicht den Zugang zu mehr Ressourcen. Menschen in ressourcenarmen Umgebungen haben keinen Zugang zu Technologie, keinen Zugang zu Ressourcen und keinen Zugang zu Diensten, welche die gleiche Art von Effizienz bieten können. Dies führt zu einem Teufelskreis. Die Datenarbeit kann dieses Problem entschärfen, indem sie mehr Ressourcen in diesen Sprachen und in diesen Settings schafft, wodurch hoffentlich auch Technologie in diesen Umfeldern entsteht.
Würden Sie zustimmen, wenn Ihnen jemand sagt, dass KI nach wie vor eine Angelegenheit des globalen Nordens sei?
Ja und nein. Technologie wird in der Regel für die oberen 5-10 % der Gesellschaft entwickelt. Alles andere sickert nach unten. Und ich denke, bei der KI ist das nicht anders. Nehmen Sie zum Beispiel Smartphones: Die Menschen in der obersten Gesellschaftsschicht begannen, Smartphones zu besitzen. Sie erkannten den Wert eines Computers in der Hand und die Effizienz, die all dies für ihre Welt mit sich brachte, und allmählich dämmerte der Welt: Hey, das ist eine Effizienz, die ich jedem geben kann. Und man begann mit der Herstellung von Smartphones im unteren Preissegment. Jetzt haben die meisten Menschen Smartphones.
Vivek Seshadri ist Co-Founder und CTO von Karya und ein leitender Forscher bei Microsoft Research India. Er ist Informatiker und Unternehmer und arbeitet an Problemen im Schnittpunkt von Technologie und globaler Entwicklung.
Seine Vision ist eine Welt, in der niemand in Armut lebt und alle Menschen die gleichen Chancen haben. Um diese Vision zu verwirklichen, setzt er sein technisches Wissen und seine Erfahrung ein, um Menschen in einkommensschwachen Gemeinden ein menschenwürdiges Einkommen zu ermöglichen.