Missionsorientierte Innovation für mehr Frauen im Netz! Interview mit Noémie Bürkl und Benjamin Kumpf

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Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben ein gemeinsames Pilotprogramm zum Thema „Missionsorientierte Innovation (MOI) zur Schließung der digitalen Geschlechterkluft“ gestartet. Weltweit sind 244 Millionen weniger Frauen als Männer online, obwohl eine Online-Präsenz zunehmend essenziell für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und demokratische Teilhabe ist.
Besonders ausgeprägt ist die digitale Geschlechterkluft in Ländern mittleren und niedrigen Einkommens. Um diese Herausforderung anzugehen, haben das BMZ und die OECD das Pilotprogramm „Innovation for Development Facility“ (INDEF) ins Leben gerufen. Ziel ist es, Partnerregierungen dabei zu unterstützen, die digitale Geschlechterkluft zu schließen und mithilfe eines MOI-Ansatzes geeignete Umsetzungsstrategien zu entwickeln.

Ein Gespräch mit Noémie Bürkl (Referatsleiterin Digitalisierung, BMZ) und Benjamin Kumpf (Leiter, OECD INDEF) zum Auftakt des Programms.

Fangen wir mal ganz vorne an: Was bitte ist denn „missionsorientierte Innovation“? Oder anders:  Worum geht es bei dem Pilotprogramm mit der OECD?

Noémie Bürkl: Zugegeben, „Missionsorientierte Innovation“ – kurz MOI – ist erst einmal ein sperriger Begriff. Die Idee dahinter ist eine Politik, die konkrete und messbare Ziele definiert, ohne Lösungen vorzugeben. Das klingt erstmal widersprüchlich, kann aber ein wirksamer Ansatz sein, um komplexe gesellschaftliche Herausforderungen wie zum Beispiel den Klimaschutz anzugehen – Probleme also, die man mit einem vertikalen Ansatz in einem einzigen Bereich nicht lösen kann.

Die Überwindung der digitalen Geschlechterkluft ist dafür ebenfalls ein gutes Beispiel: Da reicht es nicht, mehr Frauen für die IT-Branche zu interessieren oder ein paar tausend Mädchen das Programmieren beizubringen. Das ist eine Herausforderung, die wir aus den unterschiedlichsten Richtungen angehen müssen – Bildung, Regulierung, Netzzugang, kulturelle Hürden zum Beispiel – und für die es nicht die eine einfache Lösung gibt. Also dreht MOI den Spieß um und definiert ein klares Ziel. Ein fiktives Beispiel: Wir wollen in zehn Jahren die Zahl der Frauen mit Zugang zum Internet verdoppeln. Aufgabe der Politik ist es dann, ressort- und sektorübergreifend Pakete zu schnüren aus politischen und regulatorischen Maßnahmen, um dieses Ziel zu verwirklichen.

Während MOI in Industrieländern bereits erfolgreich eingesetzt wurde, gibt es in Ländern mit mittleren und niedrigen Einkommen noch wenig Wissen darüber, wie dieser Ansatz funktioniert. BMZ und OECD wollen zusammen mit den Partnerregierungen in Kolumbien und der Dominikanischen Republik dieses Wissen erweitern und die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit im digitalen Zeitalter beschleunigen. Die OECD ist eine geschätzte Partnerorganisation, die bereits viel Erfahrung mit MOI hat und den internationalen Wissensaustausch fördert. Die gewonnenen Erkenntnisse können auch für zukünftige entwicklungspolitische Initiativen von Nutzen sein.

Herr Kumpf, wie haben sich Innovationsstrategien in den letzten Jahren entwickelt und was genau versteht man unter missionsorientierte Innovationspolitik?

Benjamin Kumpf: Die normative Ausrichtung von Innovationsstrategien ist nicht neu. Neu ist jedoch in den letzten zehn Jahren die Entwicklung neuer technologischer und prozessualer Innovationen sowie neuer Formen der Zusammenarbeit. Heute gibt es sektorübergreifende Innovationsportfolios und eine Vielzahl von Finanzierungsmechanismen, von denen einige noch in der Testphase sind. Die „Energy Earthshot“-Mission der US-Regierung und das „Alchemist“-Programm der koreanischen Regierung sind Beispiele für Missionen, die auf neue Technologien setzen und durch finanzielle und technische Unterstützung umgesetzt werden. Letztere verfolgt einen „Stage-Gating“-Ansatz: Jede Phase des Innovationsprozesses wird finanziert und eine weitere Unterstützung erfolgt nur nach Erreichung zuvor festgelegter Indikatoren.

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Wichtig ist, dass Missionen breit in der Gesellschaft verankert sind und langfristige Finanzierung benötigen, was in der Entwicklungszusammenarbeit herausfordernd sein kann. Der MOI-Ansatz wird bislang vor allem in OECD-Ländern angewendet, die über entwickelte Innovationskapazitäten verfügen, aber das Interesse wächst weltweit.

Benjamin Kumpf, Leiter der Innovation for Development Facility in der OECD-Direktion für Entwicklungszusammenarbeit

Daher habe ich mit Kolleg*innen das „OECD Mission Action Lab“ gegründet, um Missionen in verschiedenen Ländern zu erforschen und den Wissensaustausch zwischen OECD-Mitgliedsstaaten und weniger entwickelten Ländern zu fördern. Dabei ist wichtig zu betonen, dass beide Seiten stets voneinander lernen.

Womit beschäftigt sich die OECD Innovation for Development Facility in Bezug auf missionsorientierte Innovationspolitik?

Benjamin Kumpf: In den letzten Jahren haben wir uns mit verschiedenen Formen der missionsorientierten Innovationspolitik befasst: Einerseits Missionen, die von Regierungen initiiert wurden, wie Indiens Ziel, bis 2024 alle Haushalte mit Trinkwasser zu versorgen; andererseits länderübergreifende Missionen, die von Regierungen und Entwicklungsorganisationen gemeinsam formuliert wurden, wie die „Family Planning 2030“-Mission, die darauf abzielt, Frauen den Zugang zu Verhütungsmitteln zu ermöglichen. Außerdem haben wir die Strategien spezialisierter Organisationen, wie der britischen Innovationsagentur Nesta und der schwedischen Vinnova, zur Unterstützung solcher Missionen untersucht. Ein wichtiges Ergebnis unserer Forschung ist, dass in Low and Middle Income Countries (LMIC) die nationalen und lokalen Ministerien für Forschung und Innovation oft kaum in Missionen eingebunden sind. Das steht im Gegensatz zu Praktiken in der EU und deutet auf eine Vernachlässigung dieser Akteurinnen und Akteure hin.

Warum ist es dem BMZ denn eigentlich so wichtig, auch seine Digitalpolitik feministisch zu gestalten?

Noémie Bürkl: Sie können die digitale Geschlechterkluft aus zwei Perspektiven betrachten. Da geht es zum einen um die Frage der Gerechtigkeit. Trotz zunehmender globaler Vernetzung sind gerade in unseren Partnerländern vor allem Frauen von den Chancen der digitalen Transformation ausgeschlossen: Teilhabe, Jobs, Wissen und Information. Gründe dafür sind etwa fehlender Zugang zu internetfähigen Geräten, mangelnde digitale Bildung oder geschlechtsspezifische Online-Gewalt. Besonders in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen ist die digitale Geschlechterkluft groß und wächst teilweise sogar weiter.

Die andere Perspektive ist ein wirtschaftliche: Langfristig kommt den Ländern die fehlende digitale Teilhabe von Frauen teuer zu stehen. Ohne die Geschlechterkluft könnten diese Länder ihre wirtschaftliche Aktivität bis 2025 um schätzungsweise 524 Milliarden US-Dollar steigern und so ihre nachhaltige Entwicklung voranbringen. Missionsorientierte Innovationspolitik kann ein Weg sein, um diesen Wandel voranzutreiben und Fortschritte bei der Überwindung der digitalen Geschlechterkluft zu erzielen.

Noémie Bürkl, Referatsleiterin Digitalisierung beim BMZ

Wie wird die Zusammenarbeit mit den Partnerländern im Rahmen des Programms aussehen?

Benjamin Kumpf: Wir nutzen einen ‚action research‘ Ansatz, bei dem ein konkreter Nutzen für unsere Partner*innen generiert werden. Wir sprechen derzeit mit Kolleg*innen aus Planungs-, Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT)-Ministerien sowie Regulierungsbehörden, um gemeinsame Ziele zu formulieren und eine ‚Missions-Diagnostik‘ durchzuführen. Dabei analysieren wir bestehende Kollaborations- und Finanzierungsmechanismen sowie die politische Verankerung der Mission in der Gesellschaft. Wir verwenden Instrumente wie Umfragen, Interviews und Workshops, um Wissen zu generieren. Um Politikansätze weiterzuentwickeln, werden wir anschließend die Diagnose und ein Optionen-Menü präsentieren, unter Einbeziehung von Partner*innen aus OECD-Ländern, die Erfahrung mit MOI-Ansätzen haben. Dabei geht es um partnerschaftlichen Dialog, von dem alle Seiten profitieren sowie die Gründung neuer Partnerschaften. Es geht nicht um einseitiges Lernen von Norden nach Süden.

In welcher Form soll das generierte Wissen aufgearbeitet werden, sodass Partnerländer und Akteurinnen und Akteure der Entwicklungszusammenarbeit davon profitieren können?

Benjamin Kumpf: Für die Akteurinnen und Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den jeweiligen Partnerländern werden wir gemeinsam mit unseren Partner*innen eine länderspezifische Diagnose erarbeiten, die im Anschluss in einem finalen Seminar diskutiert wird. Für Akteurinnen und Akteure der Entwicklungszusammenarbeit insgesamt werden wir ein Working Paper und auch kürzere Artikel ableiten. Über die Papiere hinaus ist uns wichtig, nachhaltig nützliche Einsichten zu ermöglichen. Aus diesem Grund gehen wir mit Organisationen, die sich für den Ansatz interessieren in den Austausch und stellen unsere Ergebnisse gerne zur Diskussion.

 

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Noémie Bürkl ist seit Februar 2023 Leiterin des Referats Digitalisierung im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Berlin. Zuvor war sie stellvertretende Referatsleiterin für Multilaterale Politik, stellvertretende Leiterin der Deutsch-Bilateralen Zusammenarbeit an der Deutschen Botschaft in Kairo und arbeitete als Referentin im Auswärtigen Amt sowie als Referentin bei der Internationalen Organisation für Migration. Sie studierte Internationale und Europäische Beziehungen in Frankreich und Kanada und absolvierte einen Masterstudiengang in Internationaler Wirtschaft und Politik in Prag.

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Benjamin Kumpf ist Leiter der Innovation for Development Facility in der OECD-Direktion für Entwicklungszusammenarbeit. Bevor er zur OECD kam, war er Leiter der Innovationsabteilung des britischen Außen-, Commonwealth- und Entwicklungsministeriums und leitete die Innovationsfazilität des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. In diesen Funktionen verwaltete er flexible Fonds zur Unterstützung von Experimenten, Erkundungen und der Ausweitung von Entwicklungsinnovationen, leitete Programme zum adaptiven Management und beriet Länderbüros und Partner zu strategischen Innovationsmöglichkeiten. In der Vergangenheit war er unter anderem für UN Volunteers, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und das International Agricultural Research Institute for the Semi-Arid Tropics in Indien, Jordanien, Nepal und Ruanda tätig. Er ist Mitglied mehrerer Beratungsgremien zur Förderung von Innovationen im Entwicklungs- und humanitären Sektor und lehrt als Gast-Professor an der Columbia University, New York, an der Sciences Po, Paris und an der Universität IE Madrid.